Lenin


Lebenslauf Lenins

Wladimir Iljitsch Lenin, ursprünglich Uljanow (1870–1924). Bedeutendster Kommunist des 20. Jahrhunderts. (Jedenfalls was die Wirkung auf den Verlauf der Geschichte anbetrifft.) Russe, Gründer der bolschewistischen Partei, Führer der Oktoberrevolution, Gründer der Sowjetunion. Viele seiner Auffassungen weichen vom ursprünglichen Marxismus ab. War insgesamt gesehen wesentlich voluntaristischer als es dem klassischen Marxismus entsprach. Neben seiner praktischen Tätigkeit war er auch ein politischer und philosophischer Schriftsteller.

In diesem Aufsatz geht es besonders um Lenins philosophische Auffassungen. Und die philosophischen Auffassungen der Leninisten, bzw. der philosophischen Grundpositionen des Marxismus-Leninismus. Zu Lenins politischen Auffassungen und seiner geschichtlichen Wirkung näheres im 5. Kapitel meines Stalinismus-Referats.


Kurzbeschreibung der philosophischen Auffassungen Lenins

 Materialismus: Die materielle Welt sei ein vom menschlichen Bewusstsein unabhängig existierender objektiver Tatbestand und sie sei gegenüber dem Bewusstsein das Primäre. (Bis hierher wie bei Nicolai Hartmann).

Materie sei »eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität.« Materie sei alles, was unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiere. (Hier nicht mehr wie Nicolai Hartmann.  Meine Kritik dazu – wie auch zu vielen weiteren Auffassungen Lenins – weiter unten.)

Unendlichkeit: Die Materie sei unendlich sowohl räumlich wie zeitlich, d. h. die Welt sei unendlich in Raum und Zeit. (Widerspruch zur Theorie der Weltentstehung beim Urknall und zur Theorie des grenzenlosen aber endlichen Universums.)

Raum und Zeit seien objektive, reale Seinsweisen der Materie. (Unterschied zu  Kant.)

Kein Gott: Da Raum und Zeit Seinsweisen jeglichen denkbaren Seins seien, sei ein außerhalb von Raum und Zeit existierender Gott unmöglich. »Es gibt keinen Gott und kann keinen Gott geben.«

Einheit: Die gesamte materielle Welt bilde eine Einheit.

Dialektik: Die Marxisten haben von  Hegel die Dialektik übernommen, aber geben ihr eine  materialistische Grundlage. Während bei Hegel Weltgeschichte die dialektische Entfaltung des  »Weltgeistes« ist, ist bei den Marxisten Weltgeschichte die dialektische Entfaltung der Materie.

Es gebe keine Materie ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Materie. Bewegung bedeute nicht nur Bewegung im Raum. Jede Art von Veränderung gehöre dazu. (Materie und Bewegung sind nach der  Relativitätstheorie nicht nur untrennbar, sondern identisch. E = mc²)

Die Bewegung verlaufe in aufsteigender Richtung. Es gebe eine Gesetzmäßigkeit der Entwicklung von einfachen zu komplexeren Strukturen und des Umschlagens von quantitativer in qualitative Veränderungen. [Damit stimme ich überein.]

Bei dieser Höherentwicklung und den qualitativen Veränderungen komme es zu »dialektischen Sprüngen«. Z. B. sei das Leben auf chemisch-physischen Prozessen aufgebaut, sei aber nicht mit diesen identisch und nicht auf diese reduzierbar. Es entstehe auf höheren Stufen etwas neues, ein (wie etwas ironisch gesagt wird) »ontologischer Mehrwert«. (Bei  Nicolai Hartmann »kategoriales Novum«)

Bewusstsein: Das Leben bringe auf einer bestimmten Entwicklungsstufe Bewusstsein hervor. Dieses Bewusstsein sei ein Produkt der Materie und könne ohne Materie nicht existieren. Bewusstsein sei Widerspiegelung der objektiven Realität. ( Meine Kritik daran) Das menschliche Bewusstsein (anderes Bewusstsein gebe es nicht) sei zwar ein Produkt der Materie, sei aber selbst immateriell. Es sei das einzig Immaterielle, das es überhaupt gebe. Zwischen den physio-chemischen Prozessen im Gehirn und den Bewusstseinsinhalten gebe es nicht Parallelität, sondern sie seien ein und das selbe. (Und gleichzeitig nicht das selbe! Ansonsten könnte nicht das Eine materiell und das Andere immateriell sein.)

Objektive und subjektive Dialektik: Dialektik sei Logik und Erkenntnistheorie in einem. Die materielle Wirklichkeit entwickle sich nach dialektischen Gesetzen und die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins sei eine Widerspiegelung dieser Entwicklung. Deshalb würden objektive Dialektik des Seienden und subjektive Dialektik des Denkens nicht zusammenfallen, sie seien ein und dasselbe. [Naiver Realismus!]

Praxis: Die Praxis sei der Beweis, dass subjektives Denken und objektives Sein in Übereinstimmung seien.

Kampf der Gegensätze: Die Gegensätze, die Widersprüche seien die Triebkräfte der Bewegung. Alles Bestehende trage in sich den Widerspruch, die Negation seiner selbst. Gegensätzliche Kräfte: Anziehung und Abstoßung, Positiv und Negativ, Assimilation und Dissimilation.

Kausalität: Ob Notwendigkeit oder Zufall sei immer eine Frage der Betrachtung. Die  Heisenbergsche Unschärferelation wird abgelehnt.

Freiheit: Freiheit sei bewusstgewordene Notwendigkeit. Freiheit sei sachgemäß entscheiden zu können.

 Basis und Überbau: Die ökonomische Struktur – Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und das dialektische Wechselspiel zwischen ihnen – bildete die reale Basis des gesellschaftlichen Prozesses. Über ihr erhebe sich ein politisch-rechtlicher Überbau, der unmittelbar von der ökonomischen Basis abhänge und ein ideologischer Überbau (Philosophie, Religion, Kunst,  Moral etc.) der mittelbar von der ökonomischen Basis abhänge.

Relative Eigenständigkeit des Überbaus: Die ökonomische Basis ist nach Engels aber nur in letzter Instanz bestimmend, nicht das allein ausschlaggebende. Lenin und  Stalin haben dann dem Überbau, besonders wenn es ein sozialistischer sei, eine noch größere Rolle eingeräumt. Gesellschaftliche Notwendigkeiten setzten sich nicht von selbst durch, sondern benötigten den bewussten, kämpferischen Einsatz der Avantgarde des Proletariats, der Partei. [Voluntarismus]

Neue Staatstheorie: In diesem Zusammenhang entwickelte Lenin eine vom traditionellen Marxismus abweichende Staatstheorie. Sollte bei Marx der Staat in der proletarischen Revolution bereits durch etwas ersetzt werden, das nicht mehr Staat genannt werden könne, so sollte bei Lenin der Staat bis zur Erreichung der kommunistischen Gesellschaft eine starke Rolle spielen. Lenin wurde zum Begründer eines neuen Staatsabsolutismus und zum theoretischen und praktischen Begründer des »realsozialistischen Staates«. (Der schon nach Lenins Vorstellungen keine »Freien Institutionen« beinhalten sollte.)

Sprache: Bis zu Stalins Linguistikbriefen wurde die Sprache als Teil des Überbaus angesehen und damit als klassenbedingt. Seither sagen die Leninisten, Sprache sei ein allgemein gesellschaftliches Phänomen, das nicht dem Überbau angehöre. Es hänge unmittelbar mit der Produktion zusammen. Es entwickle sich kontinuierlich und sei ein die Gesellschaft nicht spaltendes, sondern die Gesellschaft umschließendes, einigendes Band.

 Moral: Für Lenin war Moral noch zur Gänze klassenbedingt. Gut und schlecht unterschieden sich nur dadurch, ob etwas dem Aufbau des Kommunismus nütze oder ihm schade. Später (1961 – nachdem Millionen von Kommunisten Opfer ihrer eigenen Moral geworden waren) sprachen die sowjetischen Kommunisten von »grundlegensten allgemeinmenschlichen Sittennormen«, die mit den Forderungen der sozialistischen Moral deswegen übereinstimmten, weil sie sich in den Jahrtausenden des Kampfes gegen soziale Knechtschaft und sittliche Laster entwickelt hätten.

Werte: Es gebe allgemein menschliche Werte, die sich in der Kunst der Jahrtausende niedergeschlagen hätten. In diesen Werken kämen die Sehnsüchte der Volksmassen zum Ausdruck.

Religion: Während Kunst,  Moral, Wissenschaft, selbst Philosophie im Sozialismus, befreit von allen klassenbedingte Schranken, erst richtig aufblühen würden, so sei Religion einfach nur »falsches Bewusstsein«, falsche Widerspiegelung des Seins. Die Religion werde im Kommunismus absterben.

Bedeutung der marxistisch-leninistischen Philosophie: In den kommunistisch regierten Staaten (bzw. in den früher kommunistisch regierten Staaten) ist (war) die Philosophie des Marxismus-Leninismus herrschend im doppelten Sinne:

  1. Sie ist (war) die einzige erlaubte Philosophie, neben der keine andere geduldet wird (wurde).
  2. Sie ist (war) Grundlage politischer und gesellschaftlicher Praxis. Die marxistische Philosophie ist Weltanschauung und Methode in einem.

Kein Erkenntnispessimismus: Die marxistisch-leninistische Philosophie ist nach Auffassung ihrer Anhänger die richtige Deutung menschlichen Daseins, jeglichen Seins überhaupt und zwar in einem endgültigen, abschließenden, unwiderlegbaren Sinne. Sie sei endgültige Wahrheit. Andersdenkende irrten oder täuschten bewusst. Deshalb wäre es widersinnig, ihnen zuzuhören oder ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr falsches Bewusstsein zu verbreiten. [Dogmatismus]


Meine Kritik an Lenins philosophischen Auffassungen

Von ihrem absoluten Wahrheitsanspruch leiten die Kommunisten ihren absoluten Machtanspruch ab. Der theoretische Dogmatismus wird zur politischen Diktatur. Lenin ist faktisch nach Aufklärung und bürgerlicher Revolution der theoretische und praktische Begründer des neuzeitlichen Totalitarismus in Europa, wie humanistisch seine Motive und Ziele auch immer gewesen sein mögen. Er war bereit diese Ziele mit diktatorischen Methoden durchzusetzen. Er war bereit über Leichen zu gehen.

Zum Materiebegriff Lenins: Als Marx und Engels im 19. Jahrhundert ihren  dialektischen Materialismus begründeten, da war ihr Materiebegriff noch identisch mit dem Materiebegriff der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Abgesehen von der Dialektik gründeten sie ihren  Materialismus auf die  alten Griechen  Leukipp und Demokrit, den Begründern der Atomtheorie.

Insbesondere durch die  Relativitätstheorie Einsteins, der  Wellenmechanik Schrödingers und durch die weitere Atomforschung haben die Naturwissenschaftler heute aber eine andere Vorstellung von der Materie als im 19. Jahrhundert. Die Materie sei erst mit dem Urknall entstanden und sie könne sich in Energie, also Bewegung auflösen. (Nach dem Physiker Hans-Peter Dürr ist Materie die Gischt auf einem Meer, das selbst nicht materiell sei.)

Mit den neuen naturwissenschaftlichen Theorien konfrontiert hat Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, den  Materialismus dadurch zu retten, dass er den Materiebegriff neu definierte. Für Lenin ist alles Materie, was nicht menschliches Bewusstsein ist, also auch elektromagnetische Felder, Strahlungen, aber auch Gesetzmäßigkeiten oder soziale Prozesse und alles was in Zukunft noch entdeckt werden sollte. So wollte Lenin erreichen, dass der Materiebegriff nie veralten kann. Damit hat er aber den Materiebegriff soweit gefasst, dass er jeden Erklärungswert verliert! Lenins Materiebegriff war faktisch die Bankrotterklärung des Materialismus! Wenn alles Materie ist, was nicht menschliches Bewusstsein ist, dann wäre ein Gott oder eine wie auch immer geartete geistige Ursache der Welt per Definition eben Materie. Siehe hierzu auch meinen Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus[1]

Es gibt Religionen, z. B. der Brahmanismus und philosophische Theorien, z. B. die von Meister Eckhart, Jacob Böhme und Spinoza, da wird das Ganze mit Gott gleichgesetzt. Aber ob man nun das Ganze »Gott« nennt oder »Materie«, dass macht inhaltlich keinen Unterschied mehr. Man rettet am Ende nur noch Wörter, aber nicht die damit ursprünglich mal verbundenen Weltanschauungen. Siehe hierzu auch  Anselms Gottesbeweis.

Zur »Materialistischen Dialektik«: Für mich ist Dialektik nur auf  idealistischer Grundlage möglich. Eine »materialistische Dialektik« ist zwangsläufig eine kastrierte Dialektik.

Die Marxisten stellen – nach ihrer Auffassung – Hegel vom Kopf auf die Füße. Mich überzeugt das Primat des Geistes mehr, als das Primat der Materie. Mit dem Primat der Materie und dem Bewusstsein als bloßem Spiegelbild lässt sich schöpferische Intelligenz, Kreativität, Phantasie nicht erklären. Ganz abgesehen mal davon, dass ich mit Berkeley und Fichte davon ausgehe, dass Materie kein Bewusstsein erzeugen kann.

Mit der Annahme qualitativer Sprünge und Entstehung neuer Qualitäten stimme ich überein, allerdings mit der Einschränkung, dass ich es für möglich halte, dass hinter der Welt unserer Erscheinungen, in der diese Entwicklung von einfachen zu komplexeren Strukturen und damit die Entstehung neuer Qualitäten abläuft, eine weitere »wirklichere« Wirklichkeit besteht, in der alles bereits vorhanden ist, was in der Welt unserer Erscheinungen entsteht. (Essenzialismus) Wenn es in dieser »wirklicheren« Wirklichkeit keine Zeit, d. h. keine Veränderung gibt, scheint dies unausweichlich zu sein. Das könnte z. B. die Sphäre der  platonischen Ideen sein.

Zur Widerspiegelungstheorie: Die Welt, in der wir leben, ist unser geistiges Produkt. Unabhängig von uns existiert diese Welt nicht. (Konstitutionstheorie) Dies sagt noch nichts darüber aus, ob es eine vom Menschen unabhängig existierende objektive Realität gibt, die eine Wirkung auf unsere Sinne hat. Lenins Widerspiegelungstheorie ist blanker »Naiver Realismus«.

Zur Praxis als Kriterium für Wahrheit: Ein Tier kommt in seinem praktischen Leben auch zurecht, ohne dass deshalb das Sein sich in dem erschöpft, was dem Tier erkenntnismäßig zugänglich ist. Siehe hierzu bitte meinen Aufsatz Gedanken zur Erkenntnistheorie. Ich halte die »Evolutionäre Erkenntnistheorie« für überzeugender. Nach ihr hat sich unser Erkenntnisapparat im Verlaufe der Evolution entwickelt, um uns das Überleben zu ermöglichen, nicht um damit die Wirklichkeit hundertprozentig korrekt zu erfassen. Um in der Praxis erfolgreich zu sein, reicht es, dass dem Bild, welches sich ein Lebewesen von der Welt macht, in den Aspekte, die für das jeweilige spezielle Handeln wichtig sind, etwas in der vom Lebewesen unabhängigen Wirklichkeit entspricht. (Von Ähnlichkeit – wie ich früher formuliert habe – kann gar keine Rede sein. Zwischen unserem Bild und dem tatsächlichen Zustand der Welt gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit.). Näheres dazu in meinem Beitrag zur Evolutionären Erkenntnistheorie. (Weshalb wir allerdings von vielem wissen, was wir nicht brauchen, kann wiederum die Evolutionäre Erkenntnistheorie nicht erklären.)

Im Übrigen: Die Praxis, bzw. die tatsächliche gesellschaftliche und politische Entwicklung hat große Teile der Theorien von Marx und Lenin eben gerade nicht als Wahrheit erwiesen, sondern als Irrtum.

Zu Werte und Kunst: Zu vielen Spitzenprodukten der Kunst haben »die Volksmassen« überhaupt keinen Bezug, weil sie sich außerhalb ihres geistigen und ästhetischen Horizonts befinden. Die Masse zieht die seichte Unterhaltung besonders im Fernsehen vor.


Literatur und Sekundärliteratur

Philosophische Literatur:

Darüber hinaus gibt es in den ca. 50 Bänden seiner gesammelten Werke natürlich weitere philosophische Schriften, Artikel etc.

Sekundärliteratur:

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Anmerkungen

Anm. 1: Lenin hat in den Philosophischen Heften zwischen einem physischen und einem philosophischen Materiebegriff unterschieden. Erstes sei das Wahrnehmbare, Ausgedehnte, Empirische. Zweites sei gedacht, das Unbestimmbare gegenüber unserer Erkenntnis, das Rationale. (Wie schon bei  Aristoteles.) Diese Materie wäre dann Produkt geistiger Tätigkeit. Nach Auffassung einiger Autoren zeigt Lenin hier eine Neigung zum  Idealismus. Nun hat Lenin aber an anderen Stellen oft genug betont, dass er geistige Tätigkeit losgelöst von materiellen Prozessen für unmöglich hält. Die Gedanken, die er in den Philosophischen Heften äußert, zeigen lediglich, dass auch Lenin bezüglich der Problematik des Materiebegriffs seine lichten Momente hatte. Zurück zum Text


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