Naturwissenschaft


Naturwissenschaft und Philosophie

Vom Standpunkt eines konsequenten Skeptizismus aus, kann man die These vertreten, dass die einen umgebende materielle Welt eventuell nur ein Traum, eine Halluzination, eine Computer-Simulation o. ä. ist. Ausschließbar sind diese und ähnliche Möglichkeiten nicht. Wenn man sich aber einmal auf diese Welt einlässt – und das haben fast alle Philosophen bei allen sonstigen Differenzen getan – dann ist die Naturwissenschaft heutzutage einer ihrer wichtigen Bestandteile.

Es geht mir nicht darum, Philosophie in Naturwissenschaft aufzulösen. Die Philosophie beschäftigt sich mit Fragen, die die Naturwissenschaften nicht stellen. Aber Philosophie sollte besonders in unserer heutigen Zeit das moderne naturwissenschaftliche Weltbild berücksichtigen, es in ihre Überlegungen einbeziehen, was nicht bedeutet, dass sie es kritiklos als eine Sammlung objektiver, ontologischer Wahrheiten letzter Instanz hinnehmen soll oder muss. [1] Aber wer losgelöst von allen modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen philosophiert, den kann ich nicht ernst nehmen. Vielen Philosophen des 20. Jahrhunderts muss dieser Vorwurf gemacht werden. Ich nenne hier als Beispiele nur mal Heidegger und Adorno. (Es gibt auch viele Naturwissenschaftler, die die Philosophie ignorieren, was ich für genauso verkehrt halte.  Näheres weiter unten.)

Die Naturwissenschaften haben in den letzten ca. 200 Jahren eine riesige Menge an Indizien zusammengetragen, aus denen ein naturwissenschaftliches Weltbild ableitbar ist, das zwar in letzter Instanz eine Sammlung von  Hypothesen und Vermutungen darstellt ( Popper), das aber – wenn man sich einmal auf die Welt und die Vernunft einlässt – in seinen allgemeinen Grundzügen wahrscheinlich objektive Entwicklungen richtig erfasst hat.

Es gibt viele Menschen, darunter sogar viele Philosophen, die sich besonders viel auf ihren angeblichen  »Realismus«, auf ihren »Gesunden Menschenverstand« einbilden, deren Vorstellungen aber mit dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht in Übereinstimmung stehen. Nach diesem sieht es folgendermaßen aus:

Um uns herum existieren elektromagnetische Wellen der verschiedenen Frequenzen und verschiedenste Materieformen (die selbst wieder zu Materie geronnene Energie, also Bewegung sind). Verschiedene Elementarteilchen bilden Atome der verschiedenen Art. Daraus bilden sich Moleküle in millionenfacher Vielfalt. Einige der um uns herum existierenden Strahlungen und Materieformen haben eine Wirkung auf unsere Sinne, andere nicht. Elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz lösen in unseren Augen chemische Prozesse aus, die bewirken, dass Elektronen über Nervenfasern ins Gehirn fließen. In Schwingungen geratene Luftmoleküle treffen auf unsere Trommelfelle und erzeugen ebenfalls Nervenimpulse. Ähnlich ist es bei Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn. Unser Gehirn verarbeitet nun all diese eintreffenden Nervenimpulse zu der Welt, wie wir sie um uns herum wahrnehmen.

Naturwissenschaftlich betrachtet kann man also nicht einmal sagen, die für uns existierende Welt sei eine mögliche Anschauungsweise dessen, was unabhängig von uns existiert. Die Welt, die wir um uns herum wahrnehmen, ist, naturwissenschaftlich betrachtet, unabhängig von uns überhaupt nicht existent!

Die Behauptung, das Sein an sich sei möglicherweise ganz anders als wir meinen – für viele »Realisten« schlichtweg »Dummes Zeug« –, die Behauptung, es kann um uns herum Dinge geben, von denen wir nichts wissen, weil sie auf unsere Sinne keine Wirkung haben und wir auch (zumindest bisher) nicht mit dem Verstand auf sie geschlossen haben, widerspricht nicht dem heutigen Erkenntnisstand der Naturwissenschaft.

Für viele Menschen ist das eine Allerweltsweisheit. Es gibt aber Philosophen (und deren Anhänger) die in dieser Frage nicht mit den modernen Naturwissenschaften konform gehen. Als Beispiele nenne ich  Lenin mit seiner Widerspiegelungstheorie und  Moore mit seiner »Liste der Trivialitäten«.

Der gesamte  Philosophische Materialismus ist im Anbetracht der  Relativitätstheorie Einsteins, der Wellenmechanik  Schrödingers und der »Urknallhypothese« [2] (die einen eventuellen »Endknall« beinhaltet) dubios geworden. [3]

Das Problem der Willensfreiheit muss vor dem Hintergrund der Unschärferelation  Heisenbergs und der Chaostheorie neu diskutiert werden.


Über die Beschränktheit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse

Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, so nützlich und unverzichtbar sie auch für das praktische Leben sind, beschränken sich immer auf das Reich der Erscheinungen oder – nach meinem Sprachgebrauch in Meiner Philosophie – auf das Reich der Erlebnisse. Selbst in diesem Bereich sind sie mit Vorsicht zu genießen und darüber hinaus können sie kein weiteres Wissen vermitteln. Philosophisches Erkenntnisstreben können sie nicht ersetzen.

Das hat besonders folgende Gründe:

  1. Die Naturwissenschaft kann nicht beweisen, dass das, was wir wahrnehmen oder denken, auch mit dem übereinstimmt, was unabhängig vom wahrnehmenden und denkenden Menschen existiert.

  2. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, warum es überhaupt etwas gibt.

  3. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, was sich bewegt, nachdem sich die Materie in Bewegung aufgelöst hat. (Vorausgesetzt dieser Aspekt der Relativitätstheorie stimmt überhaupt.)

  4. Die Naturwissenschaft kann nicht erklären, warum es überhaupt einen Urknall gegeben hat. (Vorausgesetzt natürlich, dass es ihn überhaupt gegeben hat.)

  5. Die Naturwissenschaft mag zwar plausible Argumente dafür haben, warum durch den Evolutionsdruck immer komplexere Materiestrukturen entstanden – obwohl man schon hier Zweifel haben kann, siehe  Henry Berson – was sie aber nicht erklären kann, sind folgende Voraussetzungen für Evolution: 1. Warum hat die Materie überhaupt die Fähigkeit, sich mit anderer Materie zu verbinden? 2. Warum hat die Materie überhaupt das Bestreben, stabilere, längerlebige Strukturen zu bilden?


    »Das Wasserstoffatom und die Naturgesetze sind kein Objekt möglicher Naturwissenschaft mehr. Sie sind, unvoreingenommen betrachtet, sichtbare Zeichen dafür, dass unsere Welt einen Ursprung hat, der nicht in ihr selbst liegen kann.« Hoimar von Ditfurth


    Im Anfang war der Wasserstoff, 5. Kapitel

    Und wenn es auch aus Sicht der Evolutionstheorie kein Zufall sein sollte, dass immer komplexere Materiestrukturen entstanden, so bleibt es doch ein ungeheuerlicher Zufall, dass gerade mein Körper, mein Gehirn entstand.

  6. Die Naturwissenschaft kann nicht das Bewusstsein beobachten und sie kann nicht erklären, in welchem Verhältnis Materie und Bewusstsein zueinander stehen.

  7. Das wissenschaftliche Weltbild unterliegt einer ständigen Wandlung. Wissenschaft ist ein Prozess, zu dem Beiträge geleistet werden, die diesen Prozess möglicherweise voranbringen, aber von denen man nie mit Sicherheit wissen kann, ob sie nicht in Zukunft wieder revidiert werden. Es hat in der Vergangenheit immer wieder – zum Teil gewaltige – Überraschungen im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess gegeben. Warum sollte das in der Zukunft anders sein?

Karl Popper zeigt am Beispiel der Newtonschen Physik, dass auch die scheinbar sichersten und bestbewiesensten naturwissenschaftlichen Auffassungen im weiteren Verlauf der Geschichte wieder gestrichen werden können. Noch nie, so sagt er, war eine wissenschaftliche Theorie dermaßen gut abgesichert und in der Praxis erfolgreich wie die Newtonsche Physik und doch wurde sie von Einstein revidiert.

Dass Wissenschaft ein nie endender Prozess ist, hat schon Newton erkannt. Er schrieb: »Sein und Wissen ist ein uferloses Meer: Je weiter wir vordringen, um so unermesslicher dehnt sich aus, was noch vor uns liegt; jeder Triumph des Wissens schließt hundert Bekenntnisse des Nichtwissens in sich.« (Zitiert nach Störig, S. 347)

Auf die Geschichtlichkeit der Wissenschaft hat Pascal hingewiesen, indem er in der Auseinandersetzung mit den Cartesianern feststellte, dass die Erkenntnisse unserer Vorfahren, auch wenn wir sie zu beträchtlichen Teilen revidieren, deshalb nicht einfach nutzlos seien. Wir können nur über unsere Vorfahren hinaussehen, weil wir auf ihren Schultern stehen. Aber so wie wir vielfach über unsere Vorfahren hinausgehen, sagte Pascal, so werden unsere Nachfahren über uns hinausgehen. (Höffe 1, S. 330f)


Es gibt auch viele Menschen, besonders im naturwissenschaftlich-technischen Mittelbau trifft man solche häufig an, die ganz naturwüchsige  Materialisten oder Positivisten sind, sich aber ihrer Entscheidungen in erkenntnistheoretischen und philosophischen Fragen gar nicht bewusst sind, da sie sich mit Philosophie nicht auskennen. Häufig weigern sie sich sogar ausdrücklich, sich überhaupt mit Philosophie zu beschäftigen. Nicht, was völlig legitim wäre, weil es nicht ihr Interessesgebiet ist, sondern, weil sie meinen, Philosophie sei Kokolores, überflüssig. Statt an irgendwelche »Spekulationen und Spinnereien« halten sie sich an das, was »beweisbar« ist. Wer so denkt, dem halte ich entgegen: Vieles, was wir im praktischen Leben als richtig voraussetzen, ist in überhaupt keiner Weise beweisbar! Wir setzen es als richtig voraus, weil wir es als richtig voraussetzen wollen, in der Regel, weil wir es einfach so gewöhnt sind. Der »Tatsachensinn«, den viele (nur) naturwissenschaftlich-technisch denkende Menschen glauben den Philosophen vorauszuhaben, entpuppt sich so als mangelnde Sensibilität für die Tatsache, dass ihr Wissen zu einem beträchtlichen Teil aus Vermutungen besteht. (Dieser Absatz ist ein Auszug aus Meine Philosophie, Anmerkung 54.)


Liste der philolex-Beiträge zur Naturwissenschaft

Weiteres zur Bedeutung der Naturwissenschaft für die Philosophie in den philolex-Beiträgen zu den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen, den einzelnen Naturwissenschaftlern und weiteren Beiträgen, die eine Nähe zur Naturwissenschaft haben.


Zitate zu Naturwissenschaft

Nils Bohr: »Aufgabe der Naturwissenschaft ist es nicht nur die Erfahrung zu erweitern, sondern in diese Erfahrung eine Ordnung zu bringen.« [Danach finden wir die Ordnung nicht vor, sondern bringen sie hinein! Wie  Kant, die  Strukturalisten, die Konstruktivisten und weitere.]

Fritjof Capra: »Die Naturwissenschaftler kennen die Zweige des Baumes des Wissens, aber nicht seine Wurzeln. Mystiker kennen die Wurzeln des Baumes des Wissens, aber nicht seine Zweige. Die Naturwissenschaft ist nicht auf die Mystik angewiesen und die Mystik nicht auf die Naturwissenschaft – doch die Menschheit kann auf keine der beiden verzichten.«

Albert Einstein: »Die Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, die Religion ohne Naturwissenschaft aber ist blind.« »Jedem tiefen Naturforscher muss eine Art religiösen Gefühls naheliegen, weil er sich nicht vorzustellen vermag, dass die ungemein feinen Zusammenhänge, die er erschaut, von ihm zum erstenmal gedacht werden.«

Goethe: »Geheimnisvoll am lichten Tag // lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben // und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, // das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.«

Heisenberg: »Ein Philosoph hat einmal behauptet: ›Naturwissenschaft setzt notwendig voraus, dass gleiche Umstände immer auch gleiche Auswirkungen haben.‹ Nun, dem ist nicht so.«

Alexander von Humboldt: »Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, lässt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen.«

Immanuel Kant: »Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.«

Hans Küng: »Religion kann die Evolution als Schöpfung interpretieren. Naturwissenschaftliche Erkenntnis kann Schöpfung als evolutiven Prozess konkretisieren. Religion kann so dem Ganzen der Evolution einen Sinn zuschreiben, den die Naturwissenschaft von der Evolution nicht ablesen, bestenfalls vermuten kann.«

Max Planck: »Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, den Glauben zum Handeln.« »Religion und Naturwissenschaft – sie schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander. Wohl den unmittelbarsten Beweis für die Verträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft auch bei gründlich-kritischer Betrachtung bildet die historische Tatsache, dass gerade die größten Naturforscher aller Zeiten, Männer wie Kepler, Newton, Leibniz von tiefer Religiosität durchdrungen waren..« [Was für Planck selbst auch zutrifft. Und für Einstein und Schrödinger, den beiden anderen bedeutenden Physikern des 20. Jahrhunderts.] »Es hat Zeiten gegeben, in denen sich Philosophie und Naturwissenschaft fremd und unfreundlich gegenüberstanden. Diese Zeiten sind längst vorüber. Die Philosophen haben eingesehen, dass es nicht angängig ist, den Naturforschern Vorschriften zu machen, nach welchen Methoden und zu welchen Zielen hin sie arbeiten sollen, und die Naturforscher sind sich klar darüber geworden, dass der Ausgangspunkt ihrer Forschungen nicht in den Sinneswahrnehmungen allein gelegen ist und dass auch die Naturwissenschaft ohne eine gewisse Dosis Metaphysik nicht auskommen kann.«

Edward Teller: »Die Entdeckungen der letzten Zeit lassen praktisch alles, was wir viele Jahre für richtig gehalten haben, als falsch oder nur bedingt richtig erscheinen. Meiner Meinung nach kann man heute nur noch eines mit Sicherheit sagen: Die Lichtgeschwindigkeit ist absolut das Schnellste, was es gibt. Möglicherweise



Anmerkungen

Anm. 1: Näher ausgelassen habe ich mich dazu im 1. Teil meines Aufsatzes Gedanken zur Erkenntnistheorie. – Zurück zum Text

Anm. 2: Urknall-Hypothese: Die heutzutage unter Astrophysikern mehrheitlich vertretene Auffassung ist, dass das Universum und damit Materie, Raum, Zeit und Naturgesetze vor ca. 13 Milliarden Jahren in einem Urknall entstanden ist. Die kosmische Hintergrundstrahlung wird als Echo dieses Urknalls und die Expansion des Universums als Ergebnis diese Urknalls angesehen. Wer sich dafür näher interessiert, den empfehle ich Hoimar von Ditfurths Buch Im Anfang war der Wasserstoff. – Zurück zum Text

Anm. 3: Näher ausgelassen habe ich mich dazu in meinem Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus. – Zurück zum Text


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