Jean-Paul Sartre

Jean-Paul Sartre (1905–1980) war ein französischer Schriftsteller, Bühnenautor und Philosoph. Er war Hauptvertreter des französischen Existentialismus. Einflüsse besonders von Hegel, Marx, Freud, Husserl, und Heidegger. (Und wie bei allen Existenzphilosophen erinnert auch bei ihm vieles an Kierkegaard, wobei Sartre im Unterschied zu diesem Atheist war.)

Sartre studierte Philosophie (bis 1929) und arbeitete dann als Gymnasiallehrer (1931–44 Unterbrochen durch einen Studienaufenthalt in Berlin und später der Kriegsgefangenschaft), bevor er freier Schriftsteller wurde. Den in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Philosophie vorherrschenden Neukantianismus bezeichnete er als »Verdauungsphilosophie«. (Die die reale Welt verdaue und als  Begriffe wieder ausscheide.)

Philosophische Grundvorstellungen: Sartre ging es dagegen um den realen Menschen, der sich in einer konkreten Lebenssituation befinde und sein Verhalten, seine Zukunftsplanung frei wählen müsse. Die  Existenz des Menschen unterscheide sich grundsätzlich von der Existenz aller anderen Dinge. Der Mensch sei zur Freiheit verurteilt. Es gebe keinen Sinn des Lebens, außer dem Sinn, dem der Mensch seinem Leben gebe. Der Mensch sei das, was er aus sich mache. Da es keinenen Gott gebe, gebe es keine Ethik, außer der, die die Subjekte selbst aufstellten. ( Subjektivistische Ethik) Die anderen Menschen seien die Hölle. Jedenfalls wenn wir uns zu sehr für ihre uns betreffenden Blicke und Wertungen interessieren würden. In seinem 1. Hauptwerk Das Sein und das Nichts beschäftigt sich Sartre mit dem Sein, besonders aber mit dem Sein des Menschen. In seinem 2. Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft beschäftigt er sich mit der Gesellschaft und versuchte eine Verbindung von Existentialismus und Marxismus.

Politisches Engagement: Während der deutschen Besetzung Frankreichs (1941–1945) arbeitete er mehr oder weniger aktiv in der Widerstandsbewegung (wie aktiv, ist umstritten), versuchte dann einen neutralistischen Sozialismus zu erreichen (1946–47), sympathisierte zeitweilig mit der Sowjetunion und den französischen Kommunisten (erste Hälfte der 50er Jahre), was zum Bruch mit seinen ehemaligen Weggefährten Maurice Merleau-Ponty und Albert Camus führte. (Diese wollten vor den Massenmorden und den Arbeitslagern in der Sowjetunion nicht die Augen verschließen.) Wandte sich dann aber gegen die sowjetische Intervention in Ungarn 1956. Engagierte sich gegen den Algerienkrieg (1958–62), lehnte den ihm verliehenen Literaturnobelpreis als Vereinnahmungsversuch ab (1964), und beteiligte sich ab 1968 in der Protestbewegung. Übernahm die Herausgabe verbotener linksradikaler Zeitungen, die er selbst auf der Straße verteilte. (»Einen Voltaire verhaftet man nicht!«, soll de Gaulle gesagt haben, als es darum ging, ihn deshalb zu belangen.) [Zum Teil begrüßenswerte Aktivitäten, zum Teil hat er sich aber leider zum »nützlichen Idioten« linker Diktatoren machen lassen, und solcher, die es glücklicherweise nicht wurden. (Besuch von Andreas Baader im Zuchthaus Stuttgart-Stammheim.)]


Jean-Paul Sartre ausführlicher


Weitere Aspekte der Philosophie Sartres

Zum Verständnis Sartres, besonders wenn man seine philosophischen Werke im Original liest (bzw. die deutschen Übersetzungen), ist es hilfreich, wenn nicht sogar unumgänglich, die Philosophie Hegels, Husserls und Heideggers in ihren allgemeinen Grundzügen zu kennen. Sartre baut auf deren Gedanken auf, bzw. verarbeitet diese, grenzt sich von ihnen ab, entwickelt eigenen Gedanken mit deren Vokabular, bzw. mit einem in der Beschäftigung mit diesen Philosophen entwickelten eigenen Vokabular. Das führt dazu, dass z. T. simple Auffassungen in einer unnötig verklausulierten Sprache wiedergegeben werden. Deshalb ist der Zugang zu Sartre nach meiner Erfahrung über Sekundärliteratur erheblich einfacher. Die Originale sollte man – besonders als Philosophie-Anfänger – erst an zweiter Stelle lesen. [Nicht alle philosophischen Thesen Sartres sind simpel, aber einige sind es. Und diese könnten einfacher formuliert werden. Aber wenn ein Mensch ersteinmal eine komplizierte Ausdrucksweise verinnerlicht hat, dann drückt er nicht nur das Komplizierte damit aus, sondern auch das Einfache.]

Sein 1. Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943) ist der Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Kerngedanke des Werks: Das Sein teilt sich in zwei Bereiche. Das »Für-sich-sein« ist das durch Bewusstsein bestimmte Sein des Menschen. (Bei  Heidegger »Dasein«.) Das »An-sich-sein« ist das vom Bewusstsein unabhängig existierende Sein der Dinge.

Identität und Nicht-Identität: Die bewusstlosen Dinge seien einfach, was sie sind, sie seien mit sich identisch. Der Mensch aber, da er Bewusstsein habe bzw. sei, ist nach Sartres Auffassung nicht mit sich identisch, er könne und solle sich, d. h. seinen gegenwärtigen Zustand in Frage stellen, er sei immer schon das, was er sein könnte. Der Mensch sei wesentlich durch seine Möglichkeiten bestimmt. [Diese Behauptung ist nicht vereinbar mit Sartres These, dass der Mensch sich sein Wesen erst schaffen muss. Siehe weiter unten  Existenz geht Wesen voraus.] Der Prozess des »sich in die Zukunft Entwerfens«, einfacher ausgedrückt, »des Planens für die Zukunft« sei nicht abschließbar, da die Bewusstheit des Mensch erst mit seinem Tod, mit seinem Ende, ende. Der Mensch stehe vor einem lebenslangen Entscheidungsprozess, wobei er frei sei in der Wahl seiner Zukunft. Das verbirgt sich hinter dem berühmten Satz: »Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.« [Woher weiß Sartre, dass mit dem Tod die bewusste Existenz des Individuums zu ende ist? Das ist eine naturwissenschaftliche  Hypothese und die Naturwissenschaft werden von den Existentialisten gerade als nicht tauglich angesehen, solche philosophischen, existentiellen Fragen zu entscheiden.]

Freiheit bedeutet bei Sartre aber nicht Bindungslosigkeit, z. B. nicht die Freiheit von moralischen Normen oder die Abwesenheit von Determination. [Allerdings sind die Menschen frei in der Wahl ihrer  Moral bzw. Ethik.]

Der Mensch könne nie ein »An-sich-sein« werden, bzw., wenn er es werde, befinde er sich im Zustand der »Unaufrichtigkeit«. ( Heidegger spricht von »Uneigentlichkeit«. Das meint aber etwas anderes!). Nur wenn es ihm klar sei, dass er sich sein Wesen immer wieder selbst wählen müsse und für seine Entscheidungen Verantwortung übernehmen müsse, im Wissen, dass er nie die Seinsweise des »An-sich« erlangen könne, befinde er sich im Zustand der »Authentizität«.

Nichts: Dadurch, dass der Mensch nicht sei, was er (gerade) sei, entstehe eine »Lücke« im sonst lückenlosen Sein, das Nichts oder Nicht-Sein. Das Nichts sei aber »ein Ruf nach Sein«. Im Unterschied zu  Heidegger ist für Sartre der Mensch Ursprung des Nichts. »Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, dem es in seinem Sein um das Nichts des Seins geht: das Sein, durch das das Nichts in die Welt gelangt, muss sein eigenes Nichts sein.« (Versuch einer Vereinfachung dieses Satzes im nächsten Absatz.)

Das »Für-sich« habe die Fähigkeit zur Nichtung: Einfacher ausgedrückt, der Mensch habe die Fähigkeit – und darüber hinaus den ständigen Drang oder Zwang –, den gegenwärtigen Zustand durch einen anderen Zustand zu ersetzen. Z. B.: Ich bin hungrig, esse mich satt und habe dadurch den Hunger »genichtet«. Gleichzeitig habe ich im Zustand des »hungrig-seins«, durch den Vorsatz zu essen, den Zustand der Sattheit als meine Möglichkeit erkannt [bis hierher kann ich zustimmen] und damit ein Nichts, [eigentlich ein »noch-nicht«] ins Sein hineingenommen. Und da ich wesentlich durch meine Möglichkeiten bestimmt bin, bin ich als Hungriger bereits satt. [Das ist eine absurde »Überstrapazierung der Dialektik«. Nicht das Sein ist absurd, sondern Sartres Interpretation des Seins. Wenn man weiß, was dialektisches Denken ist, kann man aber nachvollziehen, was Sartre meint, ohne ihm deshalb zustimmen zu müssen.] So gesehen ist der Mensch »ein Sein, das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist.« [Nun könnte man auch sagen, der Mensch ist nicht nur das, was er im Moment ist, er ist immer auch schon das, was er in Zukunft ist. Aber das wäre eben nicht mehr so schön widersprüchlich. Sartre arbeitet auch an anderen Stellen mit einer solchen »überstrapazierten Dialektik«, wie ich es nenne. Es hört sich schön, geheimnisvoll und tiefsinnig an. Häufig steckt aber keine Substanz dahinter. [1]

Die Existenz geht dem Wesen (Essenz) voraus: Es gebe keine feste Wesensbestimmung des Menschen. Der Mensch sei zuerst Existenz und dann müsse er entscheiden, welches Wesen er sich geben wolle. [Aber ein »bisschen« Wesen ist eben doch mit der Existenz gegeben: Dass der Mensch wesentlich durch seine Möglichkeiten bestimmt ist.]

Dazu treffe der Mensch eine freie Urwahl bzw. Grundwahl. Daraus schließt Sartre, dass der Mensch das Leben habe, das er sich gewählt habe. [Wir leben unter objektiven Umständen, auf die wir häufig keinen oder nur einen geringen Einfluss haben. Nur im Rahmen dieser können wir wählen. Das Kind eines Reichen oder Intellektuellen in einem reichen und freien Land hat andere Wahlmöglichkeiten als ein Kind, dass in einem Slum in der Dritten Welt geboren wird.] Diese faktischen Lebensumstände leugnet Sartre nicht. Aber diese würden die Freiheit nicht aufheben, im Gegenteil würde erst die Freiheit diese Grenzen deutlich machen. Diese Grenzen existierten nämlich nur innerhalb eines konkreten frei gewählten Lebensentwurfs.

[Anders ausgedrückt, als hungernder Mensch wähle ich in völliger Freiheit den Entwurf »ich will essen«. Und erst dadurch fällt mir auf, dass es nichts zu essen gibt. Und nicht nur, dass ich es erst jetzt erkenne, nein, erst durch meinen Entwurf »ich will essen« entsteht überhaupt erst die Begrenzung »nichts zu essen da«. Wähle ich doch einfach ganz frei einen anderen Entwurf, z. B. »ich will atmen«. Und siehe da, Luft ist vorhanden. Keine Begrenzung meiner Freiheit. Und sollte man mich mit dem Kopf unter Wasser drücken, dann wäre dies nur deshalb ein Problem für mich, weil ich den Entwurf »atmen« gewählt habe. Würde ich diesen speziellen Entwurf fallen lassen, gebe es auch keine Begrenzung. (Und kurz darauf hätte ich auch kein Problem mehr damit, ein »Für-mich« zu sein.) Polemik? Wenn man Sartres philosophische Grundpositionen aus Das Sein und das Nichts konsequent zu Ende denkt, kommt man hier an.] Später hat Sartre diese Positionen selbst revidiert. Wie konsequent er dabei war, sei mal dahingestellt.

Existenz sei kontingent (ein Lieblingswort Sartres), grundlos und absurd. Der Mensch könne und solle aber der Existenz durch Handlungsentscheidungen einen Sinn geben. [Die Zufälligkeit meiner Existenz ist mir nicht besonders plausibel [2], von einem skeptizistischen Standpunkt aus ist es aber nicht mit Sicherheit entscheidbar, ob der Einzelne zufällig existiert oder mehr dahinter steckt.]

Die Folgen seiner Entscheidungen seien aber für den Menschen nicht absehbar. Aus dieser Unsicherheit seiner Existenz gingen die Gefühle von »Angst und Verlassenheit« hervor. [Aus der bloßen Tatsache, dass der Mensch Bewusstsein hat, bzw. ist, geht zwangsläufig Angst und das Gefühl der Verlassenheit hervor. AVTer-Philosophie nenne ich das. [3]]

Besonders dramatische Folgen habe die Fähigkeit zu nichten, wenn Menschen in Gesellschaft anderer Menschen seien, wenn sie ein »Für-andere-Sein« seien. Der Andere mache mich durch seinen Blick zum »An-sich«, wie ich ihn durch meinen Blick zum »An-sich« mache. Die gegenseitige Verobjektivierung sei Voraussetzung des eigene Subjektstatus. Zwischenmenschliche Beziehungen müssten deshalb scheitern. Das gipfelt in dem berühmten Satz »Die Hölle, das sind die anderen

Da auch in der Sexualität der Andere zu einem »An-sich« gemacht werde, seien sexuelle Beziehungen ein Wechsel von sadistischen und masochistischen Verhaltensweisen. [Es gibt viele sexuelle Beziehungen, für die diese Darstellung nicht zutrifft!] Dem könne man nur entkommen, wenn beide Seiten in einem Streben nach Authentizität dem jeweils anderen zeitweilig das »Für-sich« zugestehen.


Zitate Sartres

»Begehe keine Dummheit zweimal, die Auswahl ist doch groß genug.«

»Wer die Dummköpfe gegen sich hat verdient Vertrauen.«

»Der Eigensinn ist die Energie der Dummen.« [Der Eigensinn kann genauso gut die Energie der Klugen sein! In dem sie nicht alles mitmachen, was die Mehrheit um sie herum macht.]

»Ehe: in vielen Fällen lebenslängliche Doppelhaft ohne Bewährungsfrist und Strafaufschub, verschärft durch Fasten und gemeinsames Lager.«

»Wer einsam lebt, hat selten Grund zum Lachen.« [Wenn die anderen die Hölle sind? Findet Sartre die Hölle zum Lachen?]

»Die Existenz geht dem Wesen voraus.«

»Fortschritt ist das Werk der Unzufriedenheit.«

»Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.«

»Das beste bei Freud finden Sie schon bei Platon

»Wer nichts getan hat, ist niemand.«

»Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt

»Die Hölle, das sind die anderen.«

»Die Jugend will, dass man ihr befiehlt, damit sie die Möglichkeit hat, nicht zu gehorchen.«

»Viele junge Leute ereifern sich über Anschauungen, die sie in 20 Jahren haben werden.«

»Das menschliche Leben beginnt jenseits der Verzweiflung.«

»Die Liebe ist das Genie des Armen.«

»Alle Meinungen sind achtenswert wenn sie aufrichtig sind.« [Auch faschistische?]

»Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf; er existiert nur in dem Maße, als er sich entfaltet.«

»Die Minderheiten sind die Mehrheiten der nächsten Generation.«

»Mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus.« [»Überstrapazierte Dialektik«.]

»Wenn zwei Philosophen zusammentreffen, ist es am vernünftigsten, wenn sie zueinander bloß ›Guten Morgen‹ sagen.«

»Wenn jemand eine Theorie akzeptiert, führt er erbitterte Nachhutgefechte gegen die Tatsachen.«

»Wenn man sieht, was die Medizin heute fertigbringt, fragt man sich unwillkürlich: Wie viele Etagen hat der Tod

»Worte sind geladene Pistolen.«


Kommentare zu Sartre von anderen Philosophen und Autoren

 Heidegger bezeichnete Sartre Philosophie als Irrtum.


Meine Kritik an Sartre

Sartre gehört zu den Philosophen, die ich am wenigsten mag. Nicht nur, dass meine philosophischen Grundpositionen ganz andere sind, mir geht auch dieses Gejammer von der angeblichen Sinnleere des Seins, der Substanzlosigkeit und der Absurdität auf die Nerven. Leute, die soetwas behaupten, sind fast immer Privilegierte, die sich um ihre materiellen Lebensgrundlagen keine Sorgen machen müssen. Für mich hat das Leben einen Sinn: Befriedigung von Bedürfnissen. Mein Problem ist nicht die angebliche Sinnleere oder Absurdität der Existenz, sondern dass ich mir bestimmte Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Dies ist auch eines der großen Probleme vieler anderer Menschen, die sich häufig elementarste Bedürfnisse – Essen, Gesundheit – nicht befriedigen können. (Das hat Sartre allerdings gewusst und kritisiert.)

Als ich Die Wörter las, musste ich an vielen Stellen an  Alfred Adler denken. Die Anhänger seiner Individualpsychologie müssen sich durch Sartres biographischen Roman bestätigt finden. Minderwertigkeitsgefühle (bei Sartre als Substanzlosigkeit, Fadheit, Überzähligkeit, etc.) und zur Kompensierung Geltungssucht. Wobei man durchaus bezweifeln kann, ob Sartre seine Kindheit wirklich so erlebt und gestaltet hat, wie er in diesem Roman beschreibt, oder ob er nicht durch die Brille seiner späteren Philosophie einiges hinzugedichtet hat. Einige Ereignisse kann ein Kind so nicht erlebt haben, wie er sie beschreibt. Es wurde Sartre vorgeworfen, er inszeniere sein Leben. In den Wörtern hat er nachträglich seine Kindheit inszeniert.

Sollte Sartre aber seine Kindheit – zumindest zu großen Teilen – tatsächlich so erlebt haben, wie in den Wörtern beschrieben, dann hat er aus seinen Kindheitsneurosen eine Philosophie gemacht. Wie auch immer, Sartre war ein gemütskranker Mensch, der aus seinen psychischen Problemen – und unter den Einfluss der Lektüre Hegels, Husserls und Heideggers – eine Ontologie ableitete, die er dann mit Absolutheitsanspruch vertrat. Wenn er das Sein, die Existenz für sinnlos hält, dann hat er ein Problem, nicht die Menschheit als Ganzes.

Sartres Beurteilung des Blicks ist seine persönliche Macke. Viele Menschen haben mit den Blicken anderer nicht diese Probleme. (Auch nicht, wenn man den Blick im übertragenen Sinne als Beurteilung durch den Anderen auffasst.) Viele, wahrscheinlich sogar die meisten Menschen werden dem Satz »Die Hölle, das sind die anderen« nicht zustimmen. Viele Menschen leben mit anderen Menschen in Harmonie, trotz gelegentlicher Konflikte, und die Angehörigen, Freunde etc. zu verlieren, ist für sie der größte denkbare Verlust.

Umgekehrte Fälle gibt es aber auch! Ich wohne in einem hellhörigen Haus. Die anderen Bewohner können mir durch ihre Geräusche das Leben zur Hölle machen (besonders, wenn ich dabei bin philosophische Literatur zu lesen), nicht aber durch ihre Blicke. Diese gehen im Unterschied zu Geräuschen nicht durch die Wände. Außerdem erzeugen Nachbarn nächtlich und frühmorgendlich absichtlich Vibrationen und Erschütterungen, um mich am Schlafen zu hindern. Weil es sie stört, wenn ich im Schlaf schnarche, huste oder pupse.

Sartre soll den Satz »Die Hölle, das sind die anderen« selbst relativiert haben. In wie weit eine solche Relativierung in seine Philosophie hineinpasst, ist allerdings fraglich.

Sartre verabscheute seine Kindheit, aber es gibt viele Menschen, die froh wären, wenn sie eine solche sorgenfreie Kindheit gehabt hätten, in Frieden, materieller Sicherheit und mit Bildung. Und es ist ja auch nicht so, dass Sartre unter Vernachlässigung, mangelnder Liebe und Zuneigung, seelischer Grausamkeit seiner Verwandten etc. hat leiden müssen, wie es Kindern reicher Leute des Öfteren passiert. Da Sartre den Menschen stark durch seine Sozialisation in einer bestimmten Gesellschaft, sozialer Schicht, Familie etc. bestimmt sah, hätte es ihm klar gewesen sein müssen (wahrscheinlich war es ihm auch klar), dass er ohne diese Kindheit nicht ein weltberühmter Schriftsteller und Philosoph hätte werden können. Wie unglücklich er seine Kindheit auch immer empfunden haben mag, als Erwachsener hätte er sie in Kenntnis all dessen positiver bewerten müssen.

In Frieden, materieller Sicherheit und im Kreise von im Großen und Ganzen lieben Menschen aufwachsen, gute Schulen und Universitäten besuchen, dann weltberühmter Philosoph und Schriftsteller werden und anschließend seine Kindheit verabscheuen und über die Sinnleere des Seins jammern, dass empfinde ich als Unverschämtheit, als Ausdruck von Ignoranz oder eben von Gemütskrankheit. (In diesem Punkt glich er  Adorno.)

Sartre schreibt in den Wörtern von den Menschen, die »in dumpfem Glück eine unwahre Existenz leben«. Wie andere Philosophen glaubte er, erkannt zu haben, was richtiges Leben ist (wie  Heidegger,  Adorno u. w.) – jedenfalls in den Grundsätzen, sonst hätte er sich nicht über »Unaufrichtigkeit« und »Authentizität« äußern dürfen. Solche allgemeinen Maßstäbe stehen eigentlich schon im Gegensatz zu den Grundlagen des Existentialismus. Da lobe ich mir  Popper, der es dem Einzelnen überlässt, wie er sein Glück findet. Anderen vorzuschreiben, was eine wahre Existenz ist, birgt die Gefahr des Totalitarismus in sich.

Manche Kritik an seinem »Vorgänger« Heidegger trifft auch für Sartre zu: Er hatte keine skeptische Distanz zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen – jedenfalls der Menschen, die so dachten wie er – und zu seinen eigenen Überzeugungen. Er war nur ein weiterer Wahrheitsinhaber, wie es vor ihm schon hunderte andere gegeben hat. Er hat sich entsprechend dogmatisch verhalten.

Am Beginn der Philosophie sollte die Erkenntnistheorie stehen und die sollte beim heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auch die Ergebnisse der Hirnforschung berücksichtigen. Philosophisches Denken, ohne jemals über das Organ nachgedacht zu haben, mit dem wir denken, kann ich nicht ernst nehmen.

Sartre hatte keinen Bezug zu den Naturwissenschaften und Philosophieren im 20. Jahrhundert ohne Berücksichtigung der Naturwissenschaften halte ich für falsch. (Er zitiert in den Wörtern ein Zeugniseintrag: »Kind von mittlerer Intelligenz und sehr gutem Betragen, wenig begabt für die Naturwissenschaften.«)

Dadurch dann auch der Anthropozentrismus. Der Mensch wird als einziges sich seiner Existenz bewusstes Wesen angesehen. Vorformen bei den Tieren, mögliches bewusstes Leben anderswo im Universum, der Mensch als Durchgangsphase der Evolution, alles dies kommt bei Sartre nicht vor bzw. zu kurz.

Zu kritisieren finde ich auch die im Sinne  Fromms »habenorientierte« Einstellung Sartres. In den Wörtern schreibt er: »Hätte mir der Vater ein Vermögen hinterlassen, meine Kindheit wäre anders gewesen: ich wäre nicht Schriftsteller geworden, weil ich ein anderer gewesen wäre. Felder und ein Haus verleihen dem jungen Erben ein stabiles Bild seiner selbst; wenn er seinen Kies berührt oder die Fensterrauten seiner Veranda, berührt er sich und bildet mit Hilfe ihrer Dringlichkeit die unsterbliche Substanz seiner Seele.« »Einem Eigentümer spiegeln die Güter dieser Welt das eigene Dasein wider.« Der spätere Sartre war ein sehr produktiver Mensch und von daher hatte er Aspekte der »Seinsorientierung«. Aber er schrieb auch, um sich unsterblich zu machen. Er wollte ewigen Ruhm haben. Es wird auch berichtet, dass Sartre sehr wenig Eigentum besaß und somit kein habenorientiertes Leben führte. Auch seine Romanfiguren machen oft Aussagen, die sich gegen die Habenorientierung aussprechen. Ob das aber dann Sartres Lebenseinstellung widergibt, ist unsicher. Zumindest war er in dieser Frage ambivalent.

Bezüglich eines  Über-Ichs und des Aggressionstriebs schätzt Sartre sich falsch ein. (Beides leitet er übrigens nur aus der Sozialisation ab, nicht auch aus der Natur des Menschen. Wieder Mangel an Naturwissenschaft.) Aus seiner Philosophie lässt sich keine  Moral stringent ableiten. Da er aber ein sehr moralischer Mensch war, hatte er auch ein Über-Ich. Woher hätten die moralischen Grundsätze sonst kommen sollen? Sartre behauptete keinen Aggressionstrieb zu besitzen. Seinen philosophisch-literarischen Gegnern (Camus und Merleau-Ponty) gegenüber hat er sich autoritär und machtbesessen benommen. Dogmatismus und Absolutismus sind Autorität und Macht nahe verwandt.


Literatur und Sekundärliteratur

Literatur:
Sekundärliteratur:


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Anmerkungen

Anm. 1: Beispiele von »überstrapazierter Dialektik« aus dem Roman Die Wörter: »Ein Kind, das Not leidet, stellt sich keine Fragen: wenn es körperlich von Not und Krankheit betroffen wird, rechtfertigt die nicht zu rechtfertigende Lage seine Existenz. Hunger und dauernde Todesgefahr begründen seine Daseinsberechtigung: es lebt, um nicht zu sterben.« »Der Tod machte mich schwindeln, denn ich lebte nicht gern: daraus erklärt sich der Schrecken, den er mir einflößte.« »... wehrte ich mich aus Leibeskräften gegen den Tod; nicht etwa, weil mir meine Existenz teuer gewesen wäre, sondern im Gegenteil, weil mir an ihr nichts lag: je absurder ein Leben, um so weniger erträglich der Tod.« [Je schöner das Leben, so erträglicher der Tod?] Zurück zum Text.

Anm. 2: Näher ausgelassen habe ich mich darüber in meinem Aufsatz Kritik des philosophischen Materialismus. – Zurück zum Text.

Anm. 3: »AVTer-Philosophie« = Angst, Verzweiflung, Tod. (Siehe auch  Kierkegaard und  Heidegger.) Diese Polemik richtet sich nicht gegen jeden Menschen, der mit Angst, Verzweiflung und Tod zu tun hat. Sie richtet sich nur gegen diejenigen, die in Frieden und gesund in gesicherten materiellen Verhältnissen leben und Angst, Verzweiflung und Tod zu den zentralen Bestandteilen ihrer Philosophie machen. Zurück zum Text.


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